Ästhetik der Esskultur. Philosophische Grundlegung einer Ethik der Ernährung

Stipendiatin/Stipendiat: Dr. Harald Lemke

Das Habilitationsprojekt versucht, mit der Grundlegung einer Ethik der Ernährung ein von der praktischen Philosophie vernachlässigtes Thema zu systematisieren. Weder in der ökologischen Ethik, der Naturphilosophie oder der politischen Philosophie noch in den Ansätzen zu einer Philosophie des guten Lebens, der Lebenskunst oder der Leiblichkeit sowie der Ästhetik des Geschmacksurteils kommt der menschlichen Ernährungspraxis eine systematische Bedeutung zu. Diese thematische Bezüge zu Natur, Gesundheit, Ökonomie, Geschmack und Alltagskultur will das Habilitationsvorhaben in der Essensthematik bündeln und unter einer ernährungsethischen Sichtweise in den Blick nehmen. Dabei soll die Ethik der Ernährung als angewandter Teil einer alltäglichen Ethik und Ästhetik der menschlichen Ess-istenz verständlich gemacht werden. Es wird die These vertreten, dass eine solche »Essthetik«, die Kultur des guten Essens, eine Praxisform des guten Lebens ist. Die Argumentation versucht den damit beanspruchten, normativen Begriff »des Guten« zu klären und zu begründen. In methodischer Hinsicht verfolgt eine Philosophie der Ernährung zu diesem Zweck einen interdisziplinären Ansatz, der die heute in viele Diskursformen und verschiedenste Wissenschaften zerstreute Ernährungsfrage als Ganzes betrachtet. Ausgangspunkt des Vorhaben ist eine Problematisierung der vorherrschenden Ernährungsgewohnheiten ? mit dem Ergebnis, dass diese wegen ihrer gesundheitsschädlichen, unökologischen und sozioökonomisch ungerechten Auswirkungen zu kritisieren sind. Angesichts dieser problematischen Ernährungspraxis soll die systematische Darlegung einer Kultur des genussvollen Essens versucht werden. Als eine unerlässliche Bedingung dafür ist im Rahmen einer Theorie der kulinarischen Praxis die Kochkunst als eine in sich wertvolle Tätigkeit aufzuwerten. Außerdem wird das Gastmahl, das Essen mit Anderen, als wesentliche Bestandteil einer neuen Kultur des Genusses und Geschmacks beschrieben. Als ein weiteres zentrales Anliegen innerhalb des theoretischen Bezugsrahmens einer philosophischen Ethik der Ernährung wird der Versuch unternommen, den Themenbereich einer ökologischen Ethik durch den Aspekt der Ernährungsökologie zu erweitern. Diesbezüglich soll der ökologische Begriff der »guten Natur« ? das normativ beanspruchte, qualitativ »Bessere« einer ökologischen Landwirktschaft ? auf seine substanziellen, biologischen und landbaulichen Implikationen sowie agrarpolitischen und weltökonomischen Rahmenbedingungen diskutiert werden. Darüber hinaus werden insbesondere die naturphilosophischen Aspekte hinsichtlich einer agrikulturellen Neuerfindung einer geschonten und in diesem Sinne glücklichen Natur durchdacht werden. Im Mittelpunkt der gastrosophischen Naturbetrachtung steht der Gedanke ? um einen zentralen Gedanken des jungen Marx aufzugreifen ? einer ?Humanisierung der Natur? als jener nicht unbeträchtliche Teil des natürlich Seienden der Welt, der zum (leiblichen) Wohl der Menschheit bestellt und gelassen sein kann. Das Verständnis eines solchen essthetisch vermittelten Metabolismus verlangt die »metaphysische« Einsicht in die agrarökologische Konstruktion, oder genauer gesagt, in die (um-)weltökologische Konstruierbarkeit eines ethischen Mensch-Natur-Verhältnisses. So versucht eine gastrosophische Naturphilosophie ein solches Verständnis der physiologisch grundlegenden, weltleiblichen Wirkzusammenhänge zu gewinnen, dessen metaphysischen Anfangsgründe jedoch auch die erkenntnistheoretische Unmöglichkeit anzeigen, die eigenen normativen Grundsätze im Vergleich zu anderen Wissenschaften der Natur als objektiver zu behaupten. ? Die ökologischer Wahrheit einer glücklich geschonten, guten Natur ist allein ethisch-politisch begründet und nur agrikulturell wie materiell zu bewahrheiten. Um das Politische einer Ethik der individuellen »Essistenz« genauer zu fassen, wird es nicht zuletzt um die ?subversive Einsicht? (de Certeau) gehen, dass Ökonomie und Industrie maßgeblich auf einzelnen Kaufakten beruht und Globalisierung sich über die lokale Alltäglichkeit kultureller Praktiken vollzieht. So ist zu zeigen, dass eine Subpolitik der ökonomischen Strukturen der globalen Nahrungsmittelproduktion heute auch von der unruhigen Freiheit der Produktauswahl durch den einzelnen vollmündigen Konsumenten und dessen Kauf- und Urteilskraft ausgehen kann. Dieses subversive wie alltägliche Machtquantum zu gebrauchen und sich entsprechendes kosten zu lassen, macht die individuelle Ernährungspraxis zu Sache einer Ethik des guten Lebens. Aus der Sicht der prak-tischen Philosophie kann folglich gezeigt werden, dass der Einzelne ? unterhalb der politischen Strukturen ? aufgrund einer veränderten Esskultur über sein eigenes leibliches Wohl und dem mit Anderen geteilten kulinarischen Genuss hinaus auch ein agrarökologisches Naturverhältnis sowie global gerechtere Ernäh-rungsverhältnisse nachhaltig verwirklichen kann.

Förderzeitraum:
01.06.2001 - 30.11.2004

Institut:
Universität Lüneburg
Fachbereich Kulturwissenschaften

Betreuer:
Prof. Dr. Christoph Jamme

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